Präsenzunterricht oder nicht – was tun?

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Dieser Beitrag erschien zuerst auf LinkeIn.

Nach wie vor findet der Schulbetrieb statt, als gäbe es die Corona-Pandemie nicht. Unterrichtet wird  an den Schulen weitestgehend so wie bisher. Bei gleichen Klassengrößen und gleichem Stundenplan. Änderungen gibt es lediglich am Drumherum, wie beispielsweise regelmäßiges Lüften. Das kann keine Lösung sein. Denn mit steigenden Infektionszahlen erleben wir, wie immer mehr Klassen wegen Verdachtsfällen geschlossen werden, teilweise ganze Schulen. Lehrerinnen und Lehrer (folgend als “Lehrer” abgekürzt) fühlen sich alleine gelassen und gehen Tag für Tag das Risiko einer Infektion ein. So kann es nicht weitergehen.

Vorweg: Mir ist klar, dass ein vollständiger Verzicht auf Präsenzphasen die Eltern mit schulpflichtigen Kindern auch beruflich in Bedrängnis bringen kann. Diesen durchaus wichtigen gesellschaftlichen Aspekt möchte ich zunächst außen vor lassen, und ausschließlich nach der bestmöglichen Unterrichtsform suchen.

UNTERSCHIEDE VERSTÄRKEN SICH

Rückblickend auf die vergangenen Monate haben die lernschwächsten Schülerinnen und Schüler (folgend als “Schüler” abgekürzt) extrem unter der Phase von reinem Heimunterricht gelitten. Meiner Meinung nach steht in der Zeit von Schulschließungen das Schulsystem aber gerade ihnen gegenüber besonders in der Verantwortung. Würde heute entschieden werden, die Schulen bis Februar zu schließen, so käme das praktisch einem weiteren ausgefallenen Halbjahr für sie gleich. Das abgelaufene Schuljahr muss zum Großteil schon als verloren angesehen werden. So wünschenswert es im Rahmen der Pandemiebekämpfung sein mag, hier einen Graben zu ziehen und zu versuchen den Kontakt von Schulkindern untereinander zu unterbrechen, in Bezug auf die Ausbildung der Kinder wäre das der schlimmstmögliche Fall.

AUFGRUND DER ENTWICKLUNGSPHASE IST KONTAKT WICHTIG

Eine wichtige Erfahrung ist hier, dass es Schüler aus bildungsfernen oder schwierigen Familien gibt, zu denen die Lehrer bereits bei den ersten Schulschließungen den Kontakt verloren haben. Diese Schüler müssen die Chance haben, “andere Gesichter zu sehen”, z.B. Lehrer oder einige Mitschüler. Wenn Erwachsene ein solches “verlorenes Jahr” erleben, dann sind die Auswirkungen für sie geringer, als bei Kindern und Jugendlichen in schwierigen Entwicklungsphasen, in denen sie nach neuen Kontakten suchen. Als PIRATEN wissen wir, vieles kann digital ersetzt werden, aber ein zumindest gelegentlicher persönlicher Kontakt ist für die Entwicklung bzw. jedes konstruktive Miteinander unerlässlich.

KEIN ZUGANG ZU LERNMITTELN

Präsenzunterricht wird auch deshalb benötigt, weil es Familien gibt, in denen Kinder keinen Zugang zu einem internetfähigen Gerät haben. Es wäre ungerecht, diese Kinder “verloren zu geben”, wir stehen auch oder gerade ihnen gegenüber in der Verantwortung. In der Verantwortung für zukünftige Teilhabe an der Gesellschaft und Chancen auf Freiheit und Selbstbestimmung in der Zukunft.

SPRACHFÄHIGKEITEN LEIDEN

Es gibt auch Familien, in denen nicht deutsch gesprochen wird. Die Sprachfähigkeiten dieser Schüler werden leiden, wenn sie keinen regelmäßigen Kontakt zu deutsch sprechenden Personen haben.

Um wenigstens die schlimmsten Folgen abzumildern, sind daher immer wieder Präsenzphasen notwendig, in denen Lehrer etwas ausgleichen können. Persönliche Treffen, bei denen festgestellt werden kann, dass Themen nicht verstanden werden oder dass mit den zur Verfügung stehenden Mitteln Inhalte nicht auf eine Weise erschlossen werden können, dass das Ergebnis als Lernerfolg (und Lehrerfolg) gewertet werden kann. Die Präsenzphase hilft in den meisten Fällen auch, die Kontrolle darüber zu behalten, ob Aufgaben erledigt werden. So kann überhaupt erst diagnostiziert werden, ob es am fehlenden Verständnis liegt oder den fehlenden Rahmenbedingungen – also ob Schüler grundsätzlich die Partizipationsmöglichkeit haben, um am Unterricht teilzunehmen.

Der Schule vor Ort kommt eine weitere soziale Bedeutung zu, die häufig bei der Diskussion außen vor bleibt, weil sie nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit Bildung steht. Häufig wird erst im Rahmen der Schulsozialarbeit Gewalt in Familien bekannt. Verschwinden die Kinder aus den Augen der Lehrer, verschwindet auch die Möglichkeit zur Früherkennung, und die Kinder erleben unter Umständen mehr Gewalt.

AUSWEG

Bei aller Wichtigkeit des Präsenzunterrichts ist nicht von der Hand zu weisen, welches Infektionsrisiko mit dem Schulbesuch einhergeht – sowohl sich selbst anzustecken, als auch Mitschüler und Lehrer. Es muss ein Mittelweg gefunden werden, der die Risiken gegeneinander abwägt und zum bestmöglichen Ergebnis führt.

Ich bin dafür, dass es weiter ein Vor-Ort-Angebot für Unterricht gibt, allerdings nicht für jedes Kind durchgehend, wie das heute an den meisten Schulen praktiziert wird. Ich bin dafür, die Schulklassen beispielsweise zu dritteln, sogenannte ABC-Wochen mit festem Stundenplan einzuführen, von denen eine in Präsenz abgehalten wird (Gruppe A), die anderen Schüler (Gruppen B und C) folgen dem Lernangebot digital. Dieses Dritteln muss als absolute Schmerzgrenze verstanden werden. Wird die Betreuungszeit unter dieses Maß fallen, ist eine adäquate schulische Betreuung im Grunde genommen nicht mehr möglich, bzw. können wir mit dem aktuellen Stand unseres Bildungssystems über alle Bundesländer hinweg eine Vorbereitung für das Leben nicht mehr leisten. Gleichzeitig sind so die Kinder zwei Wochen von den anderen Schülern getrennt, von privaten Treffen einmal abgesehen, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, eine Ansteckung zu erkennen, bevor die Kinder wieder die Schule besuchen. Und auch dort würden sie dann nicht auf die gesamte Schulklasse treffen, sondern auf die Lehrer und ein Drittel der sonst üblichen Menge an Schülern.

Wie Valentin Ott, Themenbeauftragter Bildung der Piratenpartei Deutschland, erklärte: “Wir sind davon überzeugt, dass Kinder und Auszubildende unsere Zukunft sind, und fordern daher die sofortige bundesweite Einführung des Wechselunterrichts bis zum Ende des Jahres. Es muss möglich bleiben, flexible Lösungen für kleine Gruppen von Lernenden zu finden, die sonst nicht mehr erreicht werden können.”

Darüber hinaus müssen wir die Situation in den Schulen verbessern. Damit zum Beispiel eine Video-Übertragung des Unterrichts mit dem einem Klassenteil zu den anderen Schülern, die auf Distanz und Entfernung lernen, möglich ist,. Hierfür müssen die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie beispielsweise die erforderliche Netzanbindung, um die Veranstaltung in der notwendigen Bild- und Tonqualität zu streamen, oder auch die Systeme einzurichten. Weil das aber leider nicht immer möglich ist, muss den Schulen nicht nur eine entsprechende Flexibilität zugestanden werden, diese Probleme selber zu lösen und einen bestmöglichen Umgang mit der Situation zu erreichen. Auch in diesem Fall gilt, dass die meisten Informationen, die benötigt werden, um eine gute Lösung zu finden, unmittelbar vor Ort vorliegen. Daher muss es Schulen ermöglicht werden, mit geringem bürokratischen Aufwand individuell zu entscheiden, welchen Wechsel sie bei Präsenz- und Distanzlernen wählen möchten, ob zwei oder drei Gruppen. In Hessen beispielsweise ist es bisher nur unter großem Aufwand möglich den Unterricht auf 50% digitales Distanzlernen zu verschieben. Dies sollte für alle Schulen in Deutschland vereinfacht werden.

Auch brauchen die Schulen sofort massive Hilfen. Hierfür steht Geld aus dem Digitalpakt zur Verfügung. Bisher ist davon nur wenig abgerufen worden, weil die Schulen erst ein Medienbildungskonzept entwickeln mussten. Dazu sind die meisten noch nicht gekommen, und viele Lehrer, die vielleicht großartig unterrichten können, aber wenig IT-affin sind, fühlen sich überfordert. Daher ist ein vereinfachtes Abrufen der Mittel aus dem Digitalpakt zur Ausstattung der Schulen sofort nötig. Beispielsweise für ein Sortiment Leih-PCs oder Notebooks für Schüler, oder auch für eine oder mehrere Vollzeitstellen für Betrieb und Wartung der Geräte.

Natürlich wird es immer wieder dazu kommen, dass Schüler nicht dem Präsenzunterricht nachkommen können, beispielsweise weil es angeraten ist, quarantänebedingt zu Hause zu bleiben, oder weil besonders gefährdete Menschen im unmittelbaren Umfeld der Schüler leben. In diesem Fall muss die Schulpräsenzpflicht für die Zeit der Corona-Pandemie aufgehoben werden. Bundesweit muss es für alle Lehrer und Schüler die Möglichkeit geben, sich vom Präsenzunterricht befreien zu lassen, wenn für sich selbst oder die Personen im privaten Umfeld ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung vorliegt.

Präsenzunterricht ist wichtig. Mindestens genauso wichtig ist jedoch auch die Gesundheit der Lehrer und Schüler. Wir leben in einer Zeit, in der es technisch möglich ist, diese vermeintlich konkurrierenden Ziele in Einklang zu bringen. Durch Wechselunterricht und begleitende Maßnahmen, um den Schulen und Schülern die Rahmenbedingungen dafür zu bieten, diese umzusetzen und nutzen zu können. So können wir den totalen Lockdown an den Schulen verhindern, und gleichzeitig den Lehrern den Respekt entgegenbringen, den sie dafür verdienen, dass sie täglich ihre Gesundheit zu gefährden, um einer ganzen Generation die Chancen zu ermöglichen, die sie für ihr Leben verdienen und von denen wir als Gesellschaft profitieren werden.

von Sebastian Alscher